Skjaldarmerki ÍslandsDie isländische Nationalhymne
Steingrímur J. Þorsteinsson

Die isländische Nationalhymne, der Lobgesang Ó, guð vors lands („O, Gott des Landes“), ist ursprünglich ein Choral, der zu einem besonderen Anlass gedichtet wurde. Weder dem Dichter noch dem Komponisten des Liedes ist es wohl in den Sinn. gekommen, dass es einmal Nationalhymne würde. Und es verging auch über ein Menschenalter bis dahin.

Im Jahre 1874 waren tausend Jahre vergangen, seit der Norweger Ingólfur Arnarson sich als erster Siedler in Island niedergelassen hatte. Aus diesem Anlass wurden in jenem Sommer im ganzen Lande Feiern veranstaltet. Die Hauptfeierlichkeiten fanden auf der alten Thingstätte des Volkes, Thingvellir, und in Reykjavík statt. Für diese Feier war der Lobgesang gedichtet worden, vgl. die Worte: „Island tausend Jahr'“, die in allen drei Strophen vorkommen – und der Titel der Erstausgabe (Reykjavík 1874) des Gedichts und der Melodie heisst: H y m n e z u m Gedenken an Islands tausend Jahre.

Einem königlichen Beschluss vom 8. September 1873 zufolge sollte im Sommer 1874 in allen isländíschen Kirchen ein öffentlicher Gottesdienst zum Gedenken der tausendjährigen Besiedlung des Landes abgehalten werden. Und der Bischof von Island sollte die näheren Bestimmungen über den Tag des Gedenkgottesdienstes und den Predigttext treffen. Im gleichen Herbst liess der Bischof, Dr. Pétur Pétursson, einen Erlass des Inhalts ergehen, dass der 2. August zum Tag des öffentlichen Gottesdienstes und der 90. Psalm Davids, Vers 1-4 und 12-17, zum Text der Predigt bestimmt sei. Diese Bestimmungen für den Festgottesdienst waren der Anlass zur Entste-hung der isländischen Nationalhymne, deren Motiv durch die Textwahl gegeben war.

Zur Zeit der Veröffentlichung dieses bischöflichen Schreibens begab sich der Pfarrer Matthías Jochumsson (1835–1920) gerade auf seine dritte Auslandsreise. Als Sohn armer, kinderreicher Bauern war ihm der Besuch einer Schule erst sehr spät und nur durch die Hilfe von Menschen, die von seinen Gaben begeistert waren, möglich geworden. Er hatte seine Studien mit dem theologischen Examen in Reykjavík abgeschlossen und dort in der Nähe eine kümmerliche Pfarrstelle angenommen, hatte aber in jenem Herbst 1873, noch innerlich aufgewühlt durch den Verlust seiner zweiten Frau und in innerem Kampf gegen Glaubenszweifel, die ihn oft in seinen jüngeren Jahren befielen, seinen Beruf aufgegeben. In den nächsten Jahren wurde er Schriftleiter der ältesten Zeitung in Island, nahm später den Pfarrdienst wieder auf und hatte ein paar grössere Pfarrstellen inne, bis er im Jahre 1900 als erster Isländer vom Parlament („Althingi“) ein Dichtergehalt bekam, das er die letzten zwanzig Jahre seines Lebens genoss.

Matthías Jochumsson ist wohl einer der umfassendsten, geistvollsten, beredtesten und produktivsten isländischen Dichter aller Zeiten, der aber vielleicht auch die meisten Fehlgriffe getan hat. Am bekanntesten ist er durch seine besten Gedichte, durch seine genialen Übersetzungen verschiedener Hauptwerke der Weltliteratur und durch vielerlei lebensvolle Essays und Briefe. Dies alles wird seinen Ruhm am längsten bewahren. Matthías Jochumsson hat vor allen andern den Ehrentitel „Volksdichter der Isländer“ erhalten. Er ist vor allem ein Dichter des Lebens und des Glaubens, was u.a. in der Nationalhymne zum Ausdruck kommt - obwohl es dem Dichter gegenüber unrecht wäre, sie zu seinen allerbesten Gedichten zu zählen.

Das Gedicht ist im Winter 1873–74 auf den Britischen Inseln entstanden, die erste Strophe in Edinburg, die beiden anderen, die Matthías Jochumsson selbst nie besonders stark fand, in London. Zu jener Zeit war erst ein Jahrzehnt vergangen, seit er durch seine Dichtung die Aufmerksamkeit des Volkes erregt hatte, und es verstrich ein weiteres Jahrzehnt, bis ein eigener Gedichtband von ihm herauskam.

Der Komponist des Liedes, Sveinbjörn Sveinbjörnsson (1847-1926), hatte ein ganz anderes Schicksal als Matthías Jochumsson. Er war der Sohn des Oberlandesgerichtsdirektors Thórdur Sveinbjörnsson, eines der höchsten Beamten des Landes, und hielt sich den grössten Teil seines Lebens im Ausland äuf. Er war Theologe, machte aber später als erster Isländer die Musik zu seinem Lebensberuf. Er hatte fünf Jahre lang in Kopenhagen, Edinburg und Leipzig Musik studiert und sich gerade als Musiklehrer und Pianist in Edinburg niedergelassen, als Matthías Jochumsson im Herbst 1873 dorthin kam und bei ihm wohnte; denn sie waren Schulkameraden, obwohl der Altersunterschied zwölf Jahre betrug. Als Matthías Jochumsson dort die Anfangsstrophe des Lobgesangs gedichtet hatte, zeigte er sie Sveinbjörn Sveinbjörnsson. In seiner Lebensgeschichte schreibt Matthías Jochumsson darüber folgendes: „Sveinbjörn studierte den Text genau, sagte aber, dass er sich nicht traue, dazu eine Melodie zu komponieren; es kam dann so, dass ich ihn den Winter über immer wieder aufforderte und ermunterte, sich an dem Choral zu versuchen. Und schliesslich kam die Melodie dann im Frühling und gerade noch rechtzeitig zur Nationalfeier.“ – Sveinbjörn Sveinbjörnsson blieb fast sein ganzes Leben in Edinburg wohnen, bis auf die letzten 8 Jahre, die er in Winnipeg, Reykjavík und Kopenhagen zubrachte, wo er an seinem Klavier sitzend starb. Seit er 27-jährig die Melodie zu Ó, guð vors lands geschaffen hatte, komponierte er in seinen ganzes Leben lang noch mancherlei, darunter einige ausgezeichnete Melodien zu isländischen Gedichten, obwohl er die längste Zeit wenig direkte Verbindung mit seinem Volk hatte und in seiner Wahlheimat viel eher bekannt wurde als in seinem Vaterland. Dennoch sind seine Werke mehr in nordischem als in angelsächsischem Geist geschaffen. Und in der kleinen Schar isländischer Komponisten gehört er sowohl zu ihren Pionieren als auch zu ihren bedeutendsten Gestalten.

Doch scheint weder der Text noch die Melodie des Lobgesangs besonderes Interesse geweckt zu haben, als er am zweiten August 1874 zum ersten Mal bei drei Festgottesdiensten in der Domkirche von Reykjavík von einem gemischten Chor aufgeführt wurde. An jenem Tage wurden in Reykjavík auch 7 Gedenklie–der gesungen, die Matthías Jochumsson auf Bitten des Festausschusses gedichtet hatte - die meisten an einern Tage, so schnell konnte er manchmal dichten. Der Lobgesang aber gehört zu den wenigen Gedichten, die er für die Nationalfeier aus eigenem Antrieb dichtete.

Zu dieser Nationalfeier strömten die Menschen aus allen Landesteilen zusammen, und aus verschiedenen europäischen Ländern wie auch aus Amerika kamen hochgestellte Persönlichkeiten nach Island. Darunter war König Christian IX. von Dänemark, der als erster isländischer König das Land besuchte. Er überreichte dem isländischen Volk eine neue Verfassung, die wesentliche Verbesserungen enthielt (gesetzgébénde Gewalt und eine gewisse Selbständigkeit in der Verwaltung der Finanzen). Das war e i n e Stufe in der Wiedererlangung der Selbständigkeit, die 1262–64 verlorengegangen war. Weitere waren: die Selbstregierung (home-rule; ein isländischer Minister für Island, mit dem Sitz in Reykjavík) 1904; Island sou-verän, nur noch in Personalunion mit Dänemark, 1. Dezember 1918 – und schliesslich die Gründurig der Republik (mit einem isländischen Präsidenten) am 17. Juni 1944.

Solange Islands Souveränität noch in weiter Ferne lag, konnte man von einer Nationalhymne im gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht sprechen. Wenn die Isländer aber zum Gedenken an ihre Heimat sangen, hatte im 19. Jahrhundert und bis in unser Jahrhundert hinein das Lied „Eldgamla Ísafold“ („Uraltes Eisland“) von Bjarni Thorarensen (1786–1841; in Koperihagen, wahrscheinlich 1808–09 gedichtet) den Vorrang. Zweierlei führte aber dazu, dass es trotz seiner Beliebtheit nicht zur Nationalhymne werden konnte. Einmal machte sich in allen Strophen aus-ser der ersten und letzten, die auch am oftesten gesungen wurden, darin das Heimweh in Seitenhieben gegen das Gastland Luft. Vor allem aber sang man dieses Lied nach der Melodie der englischen Nationalhymne (obwohl es wahrscheinlich ursprünglich zu einer Melodie von du Puy gedichtet worden war).

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurde „Ó, guðvors lands“ oft von Gesangvereinen öffentlich gesungen. Aber erst zur Zeit der Selbstregierung, von 1904–1918, setzte es sich langsam als Nationalhymne durch. Bei der Ubernahme der Souveränität wurde es als isländische Nationalhymne gespielt, und das ist es seither geblieben. – Der isländische Staat erwarb das Urheberrecht für die Melodie im Jahre 1948 – es hatte bis dahin einem dänischen Musikverlag gehört – und für das Gedicht 1949.

Zweifellos lassen sich an dem Lied als Nationalhymne Mängel finden. Die Isländer stören sich zwar nicht daran, dass es eher ein Choral als ein Vaterandslied ist. Aber die Melodie hat einen so weiten Tonumfang, dass sie nicht jedermann singen kann. Man greift deshalb oft zu anderen vaterländischen Liedern, wenn man seines Landes gedenken will. Aus den letzten Jahrzehnten ist da besonders zu nennen: „Ég vil elska mitt land“ („Ich will mein Land lieben“) von Jón Trausti (Dichtername für Gudmundur Magnússon, 1873–1918) nach einer Melodie von Pfarrer Bjarni Thorsteinsson (1861–1938) – und island ögrum skorið („Island, von Fjorden zerschnitten“), eine Strophe aus einem Gedicht von Eggert Ólafsson (1726-1768) mit einer Melodie von Sigvaldi Kaldalóns (1881-1946). Aber weder diese noch andere Melodien haben „Ó, guð vors lands“ als Nationalhymne verdrängt. Es hat geradezu an Feierlichkeit gewonnen, dadurch dass es nicht im Alltag zersungen worden ist. Man verehrt den erhabenen Geist der Dichtung – besonders der ersten Strophe, die meist allein gesungen wird –, und die feierliche, ergreifende Melodie geht den Isländern zu Herzen.

Einleitung für eine feierliche ausgabe des isländischen Staatsministerium 1957
© Die Isländische Regierung

© 2000 Músík og saga1. Mai 2000